30.08.2016: Gut sechs Jahre sind seit den ersten Arbeitsschritten von PROVIEH und seinen Mitstreitern der ersten Stunde vergangen, in denen ein völlig neuartiges Konzept für eine branchenweite Tierwohl-Bonitierung“ (TWB) in der Schweinehaltung erarbeitet wurde. Aus diesem Konzept wurde die Initiative Tierwohl (ITW) entwickelt, die seit eineinhalb Jahren läuft. Pünktlich zur Halbzeit der ersten dreijährigen ITW-Periode (2015-2017) nimmt PROVIEH jetzt zu den aus Tierschutzsicht wichtigsten Aspekten der ITW und ihrer Umsetzung kritisch Stellung.
Die Errungenschaften der ITW
Standen früher vor allem Maßnahmen zur Kostensenkung und arbeitswirtschaftlichen Erleichterungen im Fokus der Schweinehaltung, so rückte unser Vorschlag für ein Tierwohl-Bonitierungssystem endlich die Frage in den Mittelpunkt: „Was braucht das Schwein?“ Der neue Fokus entfachte entlang der gesamten Erzeugungs-, Verarbeitungs- und Vermarktungskette eine lebhafte Diskussion um das Tierwohl und um den intakten, geringelten Schwanz als dem wichtigsten einzelnen TierwohI-Indikator beim Schwein.
Das von PROVIEH miterarbeitete Grundkonzept der TWB wurde im Herbst 2012 von der Branchenorganisation QS (Qualität und Sicherheit) aufgegriffen und führte Ende 2014 zur Gründung der Initiative Tierwohl (ITW). Auch wenn PROVIEH nur zeitweise und eingeschränkt an den ITW- Verhandlungen beteiligt wurde, konnten wir doch einige wichtige Akzente setzen. So wurde das Augenmerk aller Branchenmitglieder auf einige der wesentlichen Problempunkte in der Schweinehaltung hingewiesen, zu denen das Schwanzkupieren, die häufig mangelhafte Wasserqualität, Mängel in der Stallklimaführung, Fehlen von Raufutter und organischem Beschäftigungsmaterial, Platzmangel sowie Gesundheitsprobleme gehören.
Zur Förderung der Tiergesundheit begann die Ausarbeitung eines „Tiergesundheitsindex“ (TGI) auf der Grundlage einer erweiterten Erhebung und Auswertung von Schlachtbefunddaten, die sich bereits in der Erprobungsphase befindet.
Ein positives Signal ging auch von den Erzeugern aus, da sich gleich zu Beginn der ersten ITW-Periode über 4.500 Schweinehalter freiwillig zur Teilnahme an der ITW anmeldeten. Dies belegt eindrücklich die hohe Bereitschaft, bei finanziellem Ausgleich mehr für das Tierwohl zu tun. Seit April 2015 nehmen etwa 2.500 Betriebe an der ITW teil, andere landeten wegen begrenzter finanzieller Mittel auf der Warteliste. Von ihr konnten ein Jahr später 500 Betriebe nachrücken. Die übrigen ca. 1.500 Betriebe warten noch auf ihre Aufnahme.
Kritischer Soll-Ist-Vergleich
Trotz positiver Ansätze fällt die ITW weit hinter das Konzept der TWB zurück:
- Einer breiten Masse von Schweinehaltern sollte der Verzicht auf das routinemäßige Schwanzkupieren ermöglicht werden, wie es die EU-Richtlinie 2008/120/EG zum Schutz der Schweine verlangt. Aber ein „Ringelschwanz-Paket soll es in der ITW frühestens ab 2018 geben.
- Die Bereitstellung von Raufutter (zum Beispiel Heu oder Silage), ursprünglich als Pflicht geplant, wurde nur zur Wahl gestellt, was auch in der kommenden Förderperiode so bleiben soll.
- Die Pflicht zur Bereitstellung von etwas mehr Platz pro Schwein ist zwar ein Anfang, reicht aber nicht aus für ein Tier-Fressplatzverhältnis von 1:1, das ein gleichzeitiges Fressen aller Tiere ermöglicht und das Risiko von Schwanzbeißen deutlich senkt, wie die Praxiserfahrungen aus Finnland und der Schweiz beim Umstieg auf „lange“ Ringelschwänze lehrten.
Bild aus der Schweiz mit ganzen Ringelschwänzen Mastschweine von hinten, fressend am Längstrog - oder aus Finnland von Rudi Wiedmann
- Wichtige Tierwohlmaßnahmen wie Einstreu, weiche Liegeflächen und Auslauf ins Freie werden aktuell noch vergütet. Das aber soll laut Verhandlungsstand vom Juni 2016, der PROVIEH vorliegt, ab 2018 aufhören.
- Das gilt auch für die alternativen Verfahren zur betäubungslosen Ferkelkastration, obwohl derzeit die Umstellungsphase in Deutschland auf Hochtouren läuft, weil verschiedene Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels ihre Einkaufsbestimmungen ab 1. Januar 2017 verschärft haben und am 1. Januar 2019 das nationale Verbot in Kraft tritt.
- Der Bonus für eine käfigfreie Haltung der Sauen und um die Geburt und die Säugezeit ihrer Ferkel wurde als ITW-Förderkriterium zwar 2014 im Rahmen der ITW-Verhandlungen von PROVIEH erfolgreich durchgefochten, danach aber einfach wieder gestrichen. Nun gibt es keinen Anreiz mehr, auf die permanente Fixierung der Sauen in der Abferkelphase zu verzichten.
- Für grundfalsch hält PROVIEH außerdem, die ITW-Boni in der Sauenhaltung pro aufgezogenem Saugferkel statt pro Sau zu zahlen; denn das reizt Sauenhalter zum Einsatz hochfruchtbarer Sauen, die möglichst oft möglichst große Würfe haben, häufig mit mehr Ferkeln als die Sau Zitzen hat. Das überlastet die Sauen, verkürzt deren Lebenszeit und führt zur Geburt von zu vielen zu untergewichtigen Ferkeln, die bei mutterloser Aufzucht zu viele Gesundheits- und Verhaltensstörungen erleiden, oft mit Todesfolge.
- Das TWB-System war als freiwilliges Bonussystem mit anonymer „Massenbilanzierung“ zur Verbesserung des Tierwohls in der Breite konzipiert und nie als ein „Label-Programm“ mit Tierwohl-Etikettierung auf einzelnen Produkten. Nun aber wird massiv für die ITW geworben, seit 2016 sogar mit Etiketten auf den Produkten selbst. Das kann Verbraucher täuschen, wenn sie das Kleingedruckte nicht lesen oder nicht verstehen.
Das viele Geld sollte aus Sicht von PROVIEH lieber für mehr Tierwohl ausgeben werden als für Werbung – zumindest so lange, bis wirklich alle verkauften Schweinefleisch- und -wurstwaren mindestens alle gesetzlichen Vorgaben erfüllen, insbesondere den Ringelschwanz-Kupierverzicht.
- Das ursprüngliche TWB-System sollte alle Tierhalter wirtschaftlich in die Lage versetzen, immer mehr Tierwohlmaßnahmen – auch über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinaus – in ihren Ställen umzusetzen, um die Bedürfnisse der Tiere immer besser zu befriedigen. Deshalb sollte der Tierwohlbeitrag zum Fonds entsprechend dynamisch steigen. Das aber geschah nicht, denn nur eine Minderheit der Schweinefleisch verkaufenden Unternehmen macht mit. Der Beitrag der Teilnehmer wurde auch auf nur vier Cent pro Kilogramm verkauftem Schweinefleisch und -wurst beschränkt. Erst ab 2018 soll der Beitrag angehoben werden, und dann auch nur auf 6,25 Cent/kg. Die Zahl der teilnehmenden Schweinehalter und die Tierwohlmaßnahmen pro Schwein musste also von Anfang an stark beschränkt werden, so dass mittelfristig nicht einmal 20 Prozent der derzeit rund 24.500 Schweinehalter in Deutschland bei der ITW mitmachen können, obwohl viele der übrigen 80 Prozent es wollen.
- Aus Sicht von PROVIEH ist falsch, dass die ITW ihre Audits bis zu 48 Stunden vorher ankündigt, dass die Zulassungskriterien für ITW-Auditoren zu weich sind und dass den Tierschützern nach wie vor keine Gestaltungsmöglichkeit bei der ITW und auch nicht das geforderte Recht auf unangekündigte, stichprobenartige Kontrollaudits gewährt wird.
- Nach Verhandlungsstand von Ende Juni 2016 ist die Integration des Labels der Einstiegsstufe (Ein Stern) des Deutschen Tierschutzbundes (DTB) in die ITW vorgesehen. Das könnte zusätzlich für Verbraucherverwirrung bezüglich des wahren Tierwohlgehalts der Fleischwaren führen; denn die Ferkellieferanten für die Label-Betriebe kupieren nach wie vor die Ringelschwänze, da die vom DTB vorgesehenen Kriterien das Schwanzbeißen offenbar nicht wirksam verhindern können – unter anderem, weil die DTB-Tierwohlmaßnahmen nur das halbe Schweineleben (die Mast) betreffen.
Wo aber kein ganzer Ringelschwanz dran ist, da kann auch kein echtes Tierwohl drin sein. Bei diesem Credo bleibt PROVIEH, und deshalb sind wir strikt gegen jede Bewerbung oder Etikettierung von Erzeugnissen aus kupierten Tieren.
Fazit
Die aufgezeigten Mängel der ITW ermöglichen derzeit keine substantiellen Tierwohl-Verbesserungen in der breiten Masse der Betriebe. Die kommende ITW-Förderperiode (2018-2020) würde bei Umsetzung der im Juni 2016 vorgelegten Änderungspläne keine Abhilfe schaffen, sondern die meisten bestehenden Probleme nur verschärfen. Laufende ITW-Werbemaßnahmen und die ab 2018 vorgesehene zusätzliche Vermischung der ITW mit dem DTB-Label sind dazu geeignet, die Verbraucher zu täuschen.
PROVIEH als Mitbegründer wird vorerst Mitglied im „ITW-Beratungsausschuss“ bleiben, um die ITW weiterhin kritisch zu hinterfragen, auf ihre Schwachstellen aufmerksam zu machen und vor allem, um sich stark zu machen für das Wohl der Nutztiere– wer sonst sollte das tun?
Aus der kritischen Würdigung der ITW ergibt sich für PROVIEH schließlich, dass die ITW nicht als das Hauptfinanzierungsinstrument zur Lösung der branchenweiten Tierschutzprobleme in der Haltung von Schweinen und anderen Nutztieren in Deutschland dienen kann.
Sabine Ohm
Weiterführende Informationen
zur Kampagnenseite von PROVIEH
Pressemitteilung der Initiative Tierwohl
FareWellDock-Projekt der EU zum Kupierverzicht